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Wie Werder Bremens Künstliche Intelligenz auch für den Mittelstand funktioniert

Roland Becker, JUST ADD AI

Roland Becker, JUST ADD AI

von Jann Raveling
Jiri Pavlenka verdankt seinen Job einem Computer. Der Werder-Torhüter wurde durch eine Künstliche Intelligenz (KI) entdeckt. Sie durchforstete hunderttausende von Datenpunkten und Berichten, die die Talentscouts des Vereins im Laufe der Jahre geschrieben hatten, auf der Suche nach einem neuen Torhüter. Ein Mensch hätte das nicht geschafft – zu groß der Datensatz, zu viele Informationen

Zu verdanken hat Werder diese Erfolgsstory Roland Becker und seinem Team. Mit seinem Unternehmen JUST ADD AI (JAAI) hat er die Scouting-Software entwickelt und zusammen mit Werder Bremen erfolgreich erprobt. Becker ist unter anderem „IBM Champion 2019“, vom amerikanischen Digitalkonzern ausgewählter Profi in Sachen KI. Er entwickelt auch selbst neuronale Netze und ist für seine Beiträge zum OpenSource KI-Projekt Rasa zum „RasaHero“ ernannt worden. Rund um sich hat er junge Toptalente geschart, die ihr Know-how nutzen, um modernste KI-Technologien in Unternehmen zu bringen. Der gebürtige Berliner lebt seit 2012 in Bremen. „Der perfekte Ort für eine KI-Firma“, schwärmt er heute, „in Bremen haben wir wahrscheinlich die höchste Dichte an KI-Talenten in Deutschland.“

Mit uns hat er über seine Ambitionen, die Chancen der Künstlichen Intelligenz sowie über Vertrauen und Skepsis gegenüber der Technologie gesprochen.

Roland, KI ist in den Medien derzeit total präsent. Haben wir es mit einem Hype zu tun oder ist die Aufmerksamkeit berechtigt?

Roland Becker: Beides. In der öffentlichen Wahrnehmung ist KI aktuell etwas overhyped, in der Unternehmensrealität ist sie aber underhyped.

Durch die verschiedenen technologischen Durchbrüche der letzten Jahre und öffentlich wirksame Ereignisse, wie der Auftritt von IBMs Watson bei Jeopardy, Googles AlphaGo oder Teslas selbstfahrende Autos, hat KI viel Aufmerksamkeit erfahren. Da werden manchmal auch falsche Erwartungen geweckt, ebenso auch falsche Hoffnungen oder Ängste.
Gleichzeitig entwickelt sich die KI so extrem schnell weiter, dass uns schon in wenigen Jahren der derzeitige Stand der Technik antiquiert vorkommen wird – die Geschwindigkeit des Fortschritts in diesem Feld wird allgemein massiv unterschätzt. Und KI zieht sich durch alle Branchen. Wer glaubt, dass KI für seine Branche nicht relevant ist, der verpasst entweder gerade eine riesige Chance, oder er wird bereits von seinen Konkurrenten abgehängt – in einem nationalen Kontext trifft oft ersteres zu, international eher letzteres.

Was können Unternehmen derzeit von der KI erwarten?
Becker: Viele denken, dass es für Künstliche Intelligenz derzeit noch keine produktiven Einsatzmöglichkeiten gibt. Das ist völlig falsch. Es gibt jetzt schon enorm mächtige Technologien, und sie werden bereits flächendeckend eingesetzt: Amazon, Google, Facebook und Co. setzen massiv auf KI – bei Google heißt es sogar „AI first“*. Bei Facebook wird jedes hochgeladene Bild sofort durch vier neuronale Netze geschleust, zur Objekt- und Gesichtserkennung durch eine KI.

Als Unternehmen kann ich heute mit KI unstrukturierte Daten auswerten. Der Kern einer KI ist dabei das Lernen anhand von Beispielen. Man gibt etwa Millionen von Bildern und die dazugehörigen Objektklassen in ein System, und das System lernt dann selbstständig, diese zu unterscheiden. Am Ende besser als ein Mensch. Oder das System lernt, in Texten nach bestimmten Aussagen zu suchen, unabhängig davon, wie diese formuliert sind – das haben wir z.B. bei Werder Bremen gemacht.
*AI = Artificial Intelligence

Die KI braucht also vor allem eins: Daten. Nehmen wir einmal als Beispiel einen mittelständischen Maschinenbauer. Was könnte dieser an Daten haben, die er durch KI nutzen kann?
Becker: Zum Beispiel Maschinendaten, die von den Sensoren in den Anlagen aufgezeichnet werden. Die wären für Predictive Maintenance geeignet – also aus bisherigen Erfahrungen Vorhersagen über künftig notwendige Wartungsintervalle zu machen. In der Qualitätskontrolle werden manchmal Kameras oder Röntgenaufnahmen eingesetzt, um Fehler oder Risse in Werkteilen zu erkennen, auch das kann eine KI inzwischen mit höherer Genauigkeit als ein Mensch übernehmen.

Oder in der Serviceabteilung, da können etwa Kundenanrufe mit häufig wiederkehrenden Themen automatisiert werden, oder man kann aufgenommene Gespräche mit KI automatisch auswerten – zum Beispiel um eskalierte Gespräche zu erkennen und diese dann mit dem Team zu besprechen und den betroffenen Kunden zu kontaktieren oder allgemein bessere Statistiken zur Servicequalität zu erhalten.
Muss jedes Unternehmen jetzt Daten sammeln?
Becker: Viele Unternehmen haben bereits sehr wertvolle Datensätze, die sie bisher nicht nutzen konnten, die jetzt jedoch durch KI zugänglich werden: Texte, Bilder und Videos, sogenannte unstrukturierte Daten. Sie machen im Schnitt bis zu 80 Prozent aller vorhandenen Daten aus. Bisher konnten diese Daten nicht ausgewertet und für Analysen genutzt werden. Jetzt geht das.

KI hilft dabei, Muster zu erkennen, die man manuell gar nicht oder nur sehr schwer erkennen kann. Ich kann dann riesige Datenmengen automatisiert erkennen und verarbeiten, in einem Umfang und mit einer Geschwindigkeit, die mit Menschen gar nicht zu schaffen ist.

Wie schnell gibt die KI dann brauchbare Ergebnisse heraus?
Becker: KI lässt sich nicht einfach so einstöpseln und dann funktioniert schon alles. Man muss am Anfang einiges an Arbeit investieren, bevor man die Früchte eines solchen Projekts ernten kann, ein typischer Return-on-Investment liegt bei 6 bis 12 Monaten.

Wie und wann kommt dabei dein Unternehmen, JUST ADD AI, ins Spiel?
Becker: Wir helfen Unternehmen, den aktuellsten Stand der KI-Forschung zu verstehen und ihn produktiv einzusetzen. Dazu gehören auch klassische Machine Learning Systeme mit regelbasierten Ansätzen, wir fokussieren uns aber vor allem auf Deep Learning und ähnliche moderne und innovative Ansätze in der KI-Forschung, und kombinieren diese mit Kontext-Variablen und Sicherheitsregeln.

Das unterscheidet uns auch stark von den großen Anbietern wie Microsoft oder Amazon. Die sind durch die schiere Größe ihrer Installationen natürlich weniger flexibel und schnell, wenn es darum geht, neueste Erkenntnisse sofort in die Produktion umzusetzen.

Ein weiterer wichtiger Punkt ist die Datensicherheit. Bei den Systemen, die wir bauen, gehen keine Daten durch die Cloud oder gar nach Übersee, die Kunden behalten die volle Kontrolle über ihre Daten und die trainierten Modelle. Für das Training von sehr rechenintensiven Projekten mit sensiblen Daten haben wir eigene lokale GPU-Server ohne Internetverbindung. Wir arbeiten zum Beispiel auch für einige Krankenkassen, da ist der Datenschutz ein essentieller Teil der Lösung.

Kannst du uns ein paar Beispiele geben für Projekte von JAAI?
Becker: Zum einen gibt es da natürlich unser Fußball-Produkt JAAI Scout, das unter anderem von Werder eingesetzt wird. Sehr erfolgreich ist aber auch unser JAAI Agent, eine Open Source-basierende, intelligente Conversational-AI Lösung. Das ist ein System, an das ich Anfragen stellen kann, auf die ich in Dialogform Antworten erhalte. Die Anfragen können von Chat-Interfaces kommen, aber auch von Voice-Plattformen wie Alexa oder sogar von Telefonie-Anlagen. Unser System wertet dabei alle schon vorhandenen Daten aus, es nutzt den vorhandenen Kontext und ist dadurch weitaus intelligenter als alle Standard- Systeme. Es kann zum Beispiel auch auf völlig neue Dialoge sinnvoll reagieren und vor allem auch sehr einfach auf neue Themen trainiert werden.

Außerdem arbeiten wir im Bereich Computer Vision daran, Videos auszuwerten – zum Beispiel von Überwachungskameras. Hat sich nur ein Baum im Wind bewegt oder ist da eine Gestalt hinter den Busch gesprungen – wenn ein Mensch das beurteilen kann, dann können wir das auch mit KI automatisiert erfassen, selbst wenn die Kamera-Bilder unscharf und pixelig sind.

Künstliche Intelligenz und damit ausgestattete Roboter sehen sich immer wieder auch großer Skepsis gegenüber – erst kürzlich wurde bekannt, dass in Kalifornien autonome Google-Autos mit Steinen und Messern angegriffen wurden. Andere Stimmen warnen vor möglichen Jobverlusten durch Automatisierung. Wie stehst du zu dieser Diskussion?
Becker: Wir brauchen eine gesellschaftspolitische Debatte und auch die Ethik-Diskussion, aber sie sollten parallel zur KI Entwicklung verlaufen und sie pragmatisch begleiten statt sie zu blockieren. Man kann das gut am Beispiel des selbstfahrenden Autos verdeutlichen: Es ist unstrittig, dass bei selbstfahrenden Autos 95% der Unfälle gar nicht erst passieren, weil es ihre Ursachen schlichtweg nicht mehr gibt: Überhöhte Geschwindigkeit, zu wenig Abstand, Alkohol oder Drogen und Ablenkung durch das Handy. Trotzdem gibt es Leute, die vorher erstmal grundsätzlich klären wollen, wie sich das selbstfahrende Auto bei den noch verbleibenden 5% der Unfälle verhalten soll. Die verrennen sich dann oft in kaum lösbare Diskussionen darüber, welcher von zwei Menschen gerettet werden soll, wenn in einer bestimmten Situation nur einer überleben kann. Mit dieser Art von Diskussionen die Entwicklung aufzuhalten und währenddessen die vermeidbaren 95% der Unfälle weiter passieren zu lassen, halte ich für verantwortungslos.

Am wichtigsten ist es meiner Meinung nach, möglichst vielen Menschen ein grundlegendes Verständnis davon zu vermitteln, was KI ist und wie sie funktioniert. Dies versuchen wir zum Beispiel mit unserem Informationsportal http://jaai.de. Erst mit diesem Wissen kann eine sinnvolle gesellschaftliche Debatte zu den verschiedenen KI-Themen stattfinden.
Hinzu kommt, dass KI-Systeme immer von Menschen programmiert werden, und dass sie aus historischen Daten lernen. Dabei gibt es natürlich die Gefahr, dass wir als Menschen nicht in der Lage sind, Ziele korrekt vorzugeben, oder dass die historischen Daten z.B. diskriminierende Muster enthalten, die uns nicht bewusst sind. Dies führt dann dazu, dass die KI falsche Ziele verfolgt. Die KI kann für diese falschen Ziele nichts, ist aber wahnsinnig gut darin, sie zu erreichen. Es ist daher wichtig, diese Themen mit den Menschen, die KI-Systeme bauen, zu besprechen und Mechanismen einzubauen, die solche Effekte verhindern oder zumindest transparent machen.
KI-basierte Technologien halten in immer mehr Unternehmen Einzug.

Was ist eigentlich Künstliche Intelligenz?

Künstliche Intelligenz - über kaum eine andere Technologie wird derzeit häufiger geredet. Was steckt dahinter? Wir definieren den Begriff.
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Auch deshalb hast du Bremen.AI gegründet, ein Netzwerk für KI-Wirtschaft…
Becker: Wir haben in Bremen viele hervorragende Leute in der KI-Forschung, am DFKI oder an der Uni Bremen und bei den diversen Instituten. Bei der wissenschaftlichen Kompetenz sind wir in Bremen definitiv ganz weit vorne. Was noch besser laufen könnte ist der Transfer zwischen Wissenschaft und Wirtschaft.

Wenn man den Prozess der Erstellung eines KI-Systems mit dem des Kochens vergleicht, dann könnte man sagen, es gibt in der KI-Szene viele Menschen, die wissen, wie man gute Induktions-Herde oder noch bessere Mikrowellen baut. Es gibt aber kaum Leute, die wirklich gut praktisch kochen können, oder gar ein Restaurant aufmachen. Die tatsächliche Anwendung von KI in der Praxis braucht Erfahrung, und diese praktische Erfahrung muss man sammeln. Wenn ich hunderte von Koch-Videos angesehen habe, aber noch nie wirklich etwas gekocht habe, kann ich noch nicht kochen, geschweige denn, dass ich ein Sterne-Koch sein könnte. In diesem Sinne möchten wir dabei helfen, dass mehr Menschen lernen, mit KI „zu kochen“.

In Bremen haben wir eine sehr gute Chance, dafür ein Umfeld zu schaffen. Wir versuchen, mit dem Aufbau von Bremen.AI unseren Beitrag zu leisten, mit Events, Informationsaustausch, Workshops und Ideen.

Du bist also gerne hier in Bremen?
Becker: Privat sowieso, aber gerade für eine KI-Firma ist Bremen ist ein hervorragender Standort. Leute mit praktischer Erfahrung sind zwar auch hier schwierig zu bekommen, aber es ist nicht unmöglich, wie sonst fast überall. Vor allem bekommen wir hier auch die Toptalente von der Uni, dem DFKI und anderen Instituten. Wir sind aktuell in der glücklichen Situation, dass sich die Leute aktiv bei uns bewerben – ich habe in den letzten drei Wochen mehrere Bewerbungen von absoluten Topleuten erhalten. Bis Ende 2020 planen wir, 20 KI-Expertinnen und Experten zu haben. Parallel bauen wir mit https://WeserValley.com einen Accelerator für KI-Startups in Bremen auf.

Eine letzte Frage: Was ist für dich ein absoluter Glücksmoment im Job?
Becker: Ich bin jeden Tag glücklich darüber, dass ich etwas tun darf, das so interessant und spannend ist. Die Arbeit, die ich mache, verbindet all meine Interessen: Ursprünglich wollte ich mal Philosophie studieren, habe dann aber ein Diplom in Politik und Volkswirtschaft gemacht. Parallel bin ich in die Technikwelt eingetaucht, habe 1999 mit einem Freund meine erste Internet-Firma gegründet und später auch angefangen zu programmieren. Meine drei Kerninteressen Technik, Philosophie und Politik kann ich jetzt in der KI zusammenführen. KI ist technisch komplex, in den Grenzbereichen hoch philosophisch und gesellschaftspolitisch wird KI unglaublich viel verändern.

Ganz besonderen Spaß macht es mir, wenn ein KI-Modell fertig trainiert ist, es gut funktioniert und man es dann den erstaunten Kunden präsentieren kann.

Roland, vielen Dank für das Gespräch!

Über Roland Becker:
Der in Berlin aufgewachsene Unternehmer lebt schon lange in der digitalen Welt: Bereits zu Zeiten der New Economy, während seines Studiums Ende der 90er Jahre, machte er sich mit einer Internetfirma selbstständig. In Kiel, Berlin, Hamburg und Kapstadt studierte er Politik und Wirtschaft, und lebte und arbeitete dann in Hamburg, wo er mehrere digitale Firmen aufbaute. 2012 kam er aus familiären Gründen nach Bremen. Zusammen mit der bremischen We4IT GmbH baut er seit 2016 das KI-Start-up JUST ADD AI auf. Als „IBM Champion“ wurde er in den Jahren 2018 und 2019 für sein Wissen im Bereich der KI ausgezeichnet, für seine Beiträge zum OpenSource KI-Projekt Rasa (KI-basierte Sprachverabeitung) wurde er zum „RasaHero“ ernannt. Er spricht regelmäßig auf internationalen Konferenzen und gibt Workshops zu KI-Themen.

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