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Die Arzneimittelstrategie der Europäischen Union

Martin à Nijeholt/ Dr. Martina Hilger, Europaabteilung

Die Europäische Kommission hat am 25.11.2020 „Eine Arzneimittelstrategie für Europa“ veröffentlicht, die auf die Probleme in der europäischen Arzneimittelversorgung eingeht und konkrete Maßnahmen bzw. Lösungen vorschlägt, um eine qualitativ hochwertige Arzneimittelversorgung für alle Bürger:innen sicherzustellen.

Die Akteure der Gesundheitsversorgung berichten schon seit geraumer Zeit von Defiziten bei der Versorgung der Bürger:innen in der Europäischen Union (EU). Arzneimittelknappheit ist mittlerweile fester Bestandteil der Arbeit von Apotheker:innen, Ärzt:innen und Pfleger:innen. Sie führt dazu, dass medikamentöse Alternativen gefunden werden müssen bzw. Arzneimittel nur bei unbedingter Notwendigkeit, d.h. dem Mangel an Therapiealternativen, ausgegeben werden. Standardmedikamente wie beispielsweise Propofol (ein Mittel zur Narkoseeinleitung), Heparin (ein Blutverdünner) und Valsartan (ein Blutdrucksenker) mussten in der Vergangenheit bei der Behandlung von Patient:innen teilweise ersetzt werden.

Die Europäischen Institutionen haben sich 2016 unter niederländischer Ratspräsidentschaft des Themas angenommen. Der Rat stellte damals in seinen Ratsschlussfolgerungen fest, dass „[…] zu prüfen [ist], ob es vor allem auch im Hinblick auf kleine Märkte neue Lösungen für den Fall eines Marktversagens [gibt], wenn vorhandene Arzneimittel nicht mehr zur Verfügung gestellt werden oder neue Arzneimittel beispielsweise aus betriebswirtschaftlichen Gründen nicht auf den nationalen Märkten eingeführt werden.“ Auch wenn Arzneimittelengpässe schon vor der Covid-19 Krise ein bekanntes Problem waren, wurden sie während der Pandemie ins Zentrum der politischen Diskussion gerückt.

Auf die Vielfalt der Probleme reagiert die Europäische Kommission mit konkreten Maßnahmenvorschlägen. In der vorgelegten Strategie werden nun fünf Bereiche mit Handlungsbedarf beschrieben.

  1. Lieferengpässe beheben: Die Vorteile der Verlagerungen von Produktionsstätten in Drittländer (Kostenersparnisse), die damit in unproblematischen Zeiten verbunden waren, haben sich in der Covid‑19 Krise als Nachteile (Lieferketteninstabilität) erwiesen. Daher soll die europäische Abhängigkeit im Bereich der Arzneimittel in einem Dialog mit den Akteuren der Gesundheitsversorgung herausgearbeitet und Maßnahmen zur Sicherung der Versorgung vorgeschlagen werden, die die Schwachstellen der globalen Lieferketten adressieren und so die Versorgung innerhalb der EU nachhaltig sichern.
  2. Gleichberechtigter Zugang für alle EU-Bürger:innen: Um einen gleichberechtigten Zugang zu den Therapien für alle Bürger:innen zu gewährleisten, sollen Anreize geschaffen werden, die es Unternehmen attraktiver machen, auch in kleineren Mitgliedstaaten ihre Produkte anzubieten. Dazu zählt auch die Optimierung des Angebots von Generika und Biosimilarprodukten (also Produkten, die ohne Patentschutz hergestellt werden können), die eine große Rolle bei der Versorgung spielen. Insgesamt schlägt sie also Maßnahmen vor, die sich insbesondere auf den Zugang zu und die Erschwinglichkeit von Therapien in ganz Europa, unabhängig von Herkunftsland und Gesundheitssystem, konzentrieren.
  3. Forschung und Innovation fördern: Im Hinblick auf die COVID -19 Impfstoffentwicklung konnte weltweit auf vielfältige Forschungsergebnisse aufgebaut werden. Dennoch ist der Bedarf an neuen Arzneimitteln in vielen Bereichen hoch. Antimikrobielle Resistenzen (AMR), neurodegenerative Erkrankungen (bspw. Demenz), Krebserkrankungen und pädiatrische Erkrankungen (Erkrankungen des Kindes) stellen nur einen kleinen Teil des ungedeckten Forschungs- und Innovationsbedarfes dar. In besonderem Maße mangelt es an Therapeutika für seltene Erkrankungen. Ca. 95% der aktuell 6000 bekannten seltenen Erkrankungen sind momentan nicht adäquat therapierbar. Grund ist, dass die Erforschung von Medikamenten für seltene Krankheiten (sog. Orphan Drugs) nur geringen finanziellen Gewinn erwarten lässt, was die Forschung und Entwicklung vor allem die industrielle Forschung unattraktiv macht. Auch hier besteht Handlungsbedarf. Durch die Überarbeitung der Rechtsvorschriften über Arzneimittel für Kinder und für seltene Erkrankungen sollen maßgeschneiderte Ansätze entwickelt werden, um die Therapielandschaft zu verbessern und dem ungedeckten Bedarf zu begegnen. Außerdem sollen innovative Pilotkonzepte für Forschung und Entwicklung geschaffen werden, sowie antimikrobielle Substanzen durch öffentliche Haushalte beschafft werden, um die Erforschung neuartiger Mittel anzuregen.
  4. Gesundheitskrisenvorsorge und -reaktion: Zur besseren Reaktion auf Fragen der grenzüberschreitenden Arznei- und Innovationsforschung, des dafür notwendigen Materialbedarfes und zur besseren Koordination medizinischer Güter ist geplant, eine neue europäische Behörde mit dem Namen HERA (Health Emergency Response Authority) zu gründen. Diese soll Forschungs- und Materialbedarfe erheben und diese über die koordinierende Funktion verringern, um so Krisenprävention zu betreiben. Im Falle einer Gesundheitskrise, wie sie aktuell besteht, soll die Behörde auch weitergehende koordinierende Fähigkeiten erhalten.
  5. Europäischer Raum für Gesundheitsdaten: Ferner fiel während der COVID-19 Pandemie sowohl die geringe Verfügbarkeit von Daten zur grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung sowie die mangelhafte Koordination von Produktionskapazitäten zur flexiblen Reaktion auf Ressourcenmangel im Bereich der persönlichen Schutzausrüstung und medizinischen Geräte auf. Um diesen Missständen zu begegnen, soll ein europäischer Raum für Gesundheitsdaten geschaffen werden, der die Gesundheitsversorgung und die faktengestützte Entscheidungsfindung mittels besserer Datenverfügbarkeit optimieren soll.

Mit den vielfältigen Vorschlägen wird gleichzeitig angestrebt die ökonomische und ökologische Nachhaltigkeit der europäischen Gesundheitssysteme zu steigern. Um andere Regionen und Länder der Erde und auch die EU selbst durch die Maßnahmen nicht zu isolieren, wird in der Mitteilung auch betont, dass es wichtig sei, den internationalen Dialog und die Kooperation fortzusetzen.

Die Mitteilung zur „Arzneimittelstrategie für Europa“ reagiert – wie bereits in der Rede zur Lage der Union durch die Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen angekündigt – auf den klar ausgedrückten Wunsch vieler Bürger:innen der EU nach mehr Koordination der Ressourcen auf europäischer Ebene, nachdem die Schwachstellen in der Gesundheitsversorgung immer spürbarer werden. Die Themen der Arzneimittelstrategie werden die gesundheitspolitischen Diskussionen der nächsten Jahre bestimmen. Konkrete Vorschläge zur Lösung der genannten Probleme werden in diesem Jahr erwartet.

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